Das älteste AKW Deutschlands ist seit 21 Jahren abgeschaltet und noch immer total verseucht

02.04.2011 von

Jörg Möllers heikelster Auftrag im stillgelegten Atomkraftwerk Rheinsberg im Norden Brandenburgs ist im Jahr 2011 nur noch eine Anekdote aus uralten Tagen. Kurz nach Ende seines Studiums wies sein Chef den jungen Kernkrafttechniker an:
"Möller, bauen Sie einen Förderkorb, mit der ein Arbeiter in den Reaktor einfahren kann." Frisch von der Uni machte sich Möller in den 1980er Jahren mit Kollegen an die Arbeit und entwarf eine Kapsel aus dickem Stahlmantel und Bleiziegeln. Mit ihr fuhren Arbeiter immer und immer wieder für Reparaturen in das schwer kontaminierte Herzstück des Kernkraftwerks ein. Laut Möller gab es dabei nie einen Zwischenfall.

Der heute 53-Jährige erzählt diese Geschichte noch immer voller Stolz - auch wenn hinter ihm nur noch die Reste des AKW aus dem Boden ragen. Das frühere Kraftwerk an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern könnte heute ein Museum sein, das lauter solche unglaubliche Geschichten erzählt, wie sie Möller auf Lager hat. Doch stattdessen bleibt das Gelände auch 21 Jahre nach der Abschaltung des Reaktors Sperrzone. Arbeiter in Schutzanzügen packen atomar verseuchten Schutt in gelbe Fässer, Spezialisten arbeiten seit rund 16 Jahren am Abriss alter Anlagen.

Der derzeit heiß diskutierte Ausstieg aus der Kernenergie - er wird in Rheinsberg vielleicht länger dauern, als das Kraftwerk je laufen durfte. 1966 ging das damals erste deutsche Atomkraftwerk ans Netz, im Wendejahr 1990 war Schluss. 2014 soll das Gelände nach den Plänen des Betreibers, den bundeseigenen Energiewerken Nord, endlich "sauber" sein. 40.000 Tonnen an radioaktiv belastetem Material wurden den Angaben zufolge dann in all den Jahren abgetragen.

Doch dieser Plan könnte noch aufgrund von Sparzwängen kippen: Weil es günstiger wäre, könnte der kontaminierte Teil des AKW einfach zugesperrt werden, erläutert Möller. Nach etwa 50 Jahren strahle dann nichts mehr im ganzen Gebäude. Dem Steuerzahler spare das Millionen. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kritisiert dies scharf: Derartige Vorschläge seien "die typische Art der Atomlobby, die Lasten auf künftige Generationen zu verschieben", sagt Atom-Experte Karsten Smid.

Rückbau kostet 420 Millionen Euro aus der Staatskasse

Mit rund 560 Millionen Euro kalkuliert der Bund für den Rückbau des Kraftwerks und die Endlagerung aller dort atomar verseuchten Materialien, sagt Möller. Geld, für das im Falle der DDR-Meiler von Rheinsberg und Lubmin bei Greifswald an der Ostsee der Steuerzahler allein aufkommt. Denn die DDR habe damals keine Rücklagen für den Abriss der Anlagen gebildet.

Jeder Betreiber eines heute aktiven AKW in Deutschland zahlt automatisch Abgaben, aus dem nach der Stilllegung der Rückbau finanziert werde. Nach Auskunft der Deutschen Atomforums, der Interessenvertretung der Branche, kamen so bislang 28,8 Milliarden Euro zusammen. "Die Endlagerkosten sind also im Strompreis schon mit drin", sagt Möller. Dem widerspricht Greenpeace-Mitarbeiter Smid: Die Kosten für die Endlagerung seien damit nicht gedeckt, "denn noch ist ja kein sicheres Endlager gefunden worden."

Moderne Reaktoren haben 23 mal mehr Power

In seinen besten Jahren hat das AKW Tag und Nacht so viel Strom erzeugt, dass es den Energiehunger einer Stadt wie Potsdam im Alleingang stillen konnte, wie Möller erklärt. Neue Druckwasserreaktoren spielen da in einer ganz anderen Liga: Der bald fertiggebaute Reaktor 3 des finnischen AKW Olkiluoto wird es nach Angaben des Herstellers Areva auf eine mehr als 23 mal höhere Leistung als Rheinsberg bringen und die Stromversorgung von 2,8 Millionen Privathaushalten sicherstellen.

Möller verschweigt nicht, dass es in all den Betriebsjahren auch Störfälle in Rheinsberg gab. Einmal, erinnert er sich, sei kontaminierter Dampf in die Turbine geraten, also außerhalb des Hochsicherheitsbereichs. Für die japanische Atomkatastrophe von Fukushima hat er nur Unverständnis übrig: "Ich bin in den vergangenen Wochen nur noch erschrocken, mit welcher Leichtsinnigkeit die Japaner ihre Kernkraftwerke gebaut haben. Die haben in diesem Erdbebengebiet ja nicht mal einen Tsunami einkalkuliert."

(Jens Twiehaus / dapd)

Das AKW Rheinsberg und Kernenergie in sechs Daten 

  • Das AKW war zu DDR-Zeiten 130.000 Stunden in Betrieb
  • Etwa einmal pro Jahr bekam das Kraftwerk neues Uran aus der Sowjetunion, der Atommüll wanderte auch dorthin zurück
  • Im Laufe der Jahre wurden 9.000 Gigawattstunden Strom erzeugt, ein Vier-Personen-Haushalt könnte damit theoretisch mehr als zwei Millionen Jahre versorgt werden
  • Das Reaktorgefäß gibt noch ein Sechzehntel so viel Strahlung ab wie 1990, in drei bis fünf Jahrzehnten soll der Stahl auf dem Rohstoffmarkt verkauft werden
  • Weltweit gibt es 442 aktive Atomkraftwerke, 65 weitere befinden sich im Bau; manche Länder wie Polen planen erst noch den Einstieg in die Kernenergie

 

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