Super-GAU in Zeitlupe: Was Tschernobyl und Fukushima unterscheidet
Am Anfang war der Knall, jedenfalls in Tschernobyl. Mit der Explosion im Reaktorkern am 26. April 1986 entwichen nicht nur riesige Mengen Radioaktivität: Tschernobyl wurde damit schlagartig zum Synonym für den Super-GAU.
Diese Rolle wird sich Tschernobyl in Zukunft mit Fukushima teilen. Seit dem 12. April ist auch das Unglück in Fukushima als "katastrophaler Unfall" eingestuft: Level 7 auf der sogenannten INES-Skala zur Bewertung von nuklearen Ereignissen. Doch das heißt noch lange nicht, dass die beiden Unfälle gleichrangig zu bewerten sind, was den Ablauf und die Folgen angeht.
In Tschernobyl wurde die Radioaktivität fast auf einen Schlag frei. Ein Test war schiefgelaufen, es kam zur abrupten Zerstörung von Reaktorkern und -gebäude. Da im Druckbehälter das leicht entzündliche Grafit als Neutronen-Bremse eingesetzt war, geriet der Kern in Brand. Vor allem die leichtflüchtigen radioaktiven Isotope wie Jod und Cäsium entwichen schnell und wurden durch den Grafitbrand in große Höhen gebracht. "Dort konnte es sich über ganz Europa ausbreiten", sagte der Physiker Lothar Hahn, der bis 2010 Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) war. "Dadurch, dass der Kern in Tschernobyl fast komplett zerstört wurde, gab es keine Rückhaltemöglichkeiten mehr für das radioaktive Material. Fast alles ist freigesetzt worden."
Auch in Fukushima gab es Explosionen, in den Reaktorgebäuden 1, 3 und 4. Allerdings waren das "nur" Wasserstoffexplosionen außerhalb der Sicherheitsbehälter, die den Kernbrennstoff enthalten. Infolge von Erdbeben und Tsunami waren die Kühlsysteme ausgefallen, dadurch stiegen Temperatur und Druck in den Reaktoren, Explosionen folgten. Ob die Reaktoren dabei beschädigt wurden, ist noch unklar. Fest steht allerdings: Es kam - anders als in Tschernobyl - bislang nicht zu einer kompletten Freisetzung der enthaltenen Radioaktivität. "Meiner Einschätzung nach ist es in Fukushima immer wieder zu Schäden gekommen, bis hin zu teilweisen Kernschmelzen", sagte Hahn. Eine komplette Kernschmelze habe es jedoch vermutlich nicht gegeben. "Die Lage ist allerdings noch nicht unter Kontrolle. Es kann noch schlimmer werden, von Stunde zu Stunde."
"Alle tappen im Dunkeln"
Das ist der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Katastrophen: Die in Tschernobyl war schnell geschehen, dann konnten nur noch die Folgen eingedämmt werden. In Fukushima dagegen passiert der schleichende Super-GAU. Die rund 700 Arbeiter am Atomkraftwerk kämpfen dafür, das Schlimmste noch zu verhindern. Noch immer ist etwa das Risiko von weiteren Explosionen längst nicht gebannt. Die nämlich könnten durchaus noch für massive Freisetzungen von Radioaktivität sorgen. Eine weitere Gefahrenquelle sind die Abklingbecken im oberen Teil der Reaktorgebäude. Dort lagern die abgebrannten Kernbrennstäbe, die permanent mit Wasser gekühlt werden müssen. Unterbleibt das, kann es zur massiven Freisetzung von Radioaktivität kommen. Im Block 4 ist das zeitweise passiert.
Der Kampf gegen die Strahlung
Nach der Explosion in Tschernobyl brauchten die sogenannten Liquidatoren zehn Tage, bis der Brand gelöscht war. Von Militärhubschraubern wurden Blei und Sand abgeworfen, um die Strahlung zu dämpfen. Es dauerte dann rund ein halbes Jahr, um den "Sarkophag" zu bauen, der die stark strahlende Reaktorruine einschließen sollte. Da waren Teile Europas bereits für Jahrzehnte radioaktiv belastet. Welche gesundheitlichen Auswirkungen das hat, ist höchst umstritten.
Ebenfalls völlig unklar ist, welche Folgen die Freisetzung von Radioaktivität um Fukushima haben wird. Hohe Strahlenbelastung wurde jedoch auch außerhalb der Evakuierungszone von 20 Kilometern um das Atomkraftwerk gemessen. Internationale Experten und japanische Abgeordnete fordern deshalb schon seit Wochen die Ausweitung der Evakuierungen.
"Der Austritt von Strahlung ist noch nicht vollkommen gestoppt", sagte ein Sprecher der Betreibergesellschaft Tepco am Dienstag ungewohnt offen. "Unsere Sorge ist, dass sie am Ende Tschernobyl übersteigen könnte."
(Katrin Aue / dapd)