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Zoff in den Alpen - Ökostrom gräbt Fluss das Wasser ab
Von einem wahren Öko-Paradies schwärmen Naturfreunde, wenn sie auf den Tiroler Lech mit seinen ausgedehnten Geröllbänken und Auwäldern zu sprechen kommen. Er gehört zu den wenigen echten "Wildflüssen", die es im industrialisierten Mitteleuropa noch gibt. Doch jetzt soll dem Fluss zum Zwecke angeblich umweltfreundlicher Stromerzeugung ein Teil seines Wassers entzogen werden. Naturschützer und Lech-Anrainer in Tirol und Bayern versuchen, die schleichende Trockenlegung des Flusses zu verhindern.
Das Projekt, das so viel Wirbel verursacht, trägt den schlichten Namen "Beileitung Ost". Die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) betreibt im Lech-Quellgebiet das Kraftwerk Spullersee. Es wurde in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut, um die Arlbergstrecke mit Strom zu versorgen und soll nun erweitert werden. Dazu wollen die Ingenieure drei Lech-Zuflüsse fassen und das Wasser über einen Stollen in den schon existierenden Stausee leiten.
Die Jahresleistung des Kraftwerks würde dadurch um 30 Prozent steigen. Dies entspricht, laut ÖBB, dem Strombedarf für rund 6.000 Züge, die von Wien nach Innsbruck fahren. Da der Stausee jenseits der Wasserscheide liegt, würde das abgezweigte Gebirgswasser nicht mehr über den Lech der Donau zustreben, sondern dem Hochrhein.
Die Eingriffe in die empfindliche Bergnatur und das Flusssystem des Lechs seien minimal, argumentiert die Bahn. "Die Dynamik der Flusslandschaft und die davon abhängigen Lebensräume und Arten bleiben erhalten", heißt es auf der Internetseite des Projektes. Im Oberlauf des Flusses sei durch die Entnahme nur ein Rückgang der Wasserführung um drei bis acht Prozent zu erwarten, im Tiroler Unterlauf gar nur zwischen 0,6 und 2,6 Prozent.
Naturschützer präsentieren ganz andere Zahlen. Bis zu 13 Prozent seines Wassers könnten dem Fluss in Zukunft fehlen, sagt Nicole Schreyer, Leiterin des Alpenprogramms des World Wide Fund For Nature (WWF) in Innsbruck. Im Winter, wenn die Schneekanonen im österreichischen Promi-Skigebiet Lech/Zürs auf Hochtouren laufen, sei sogar mit einem Viertel weniger Wasser zu rechnen. "Dabei ist schon ein Prozent zu viel", kritisiert Schreyer.
Der ökologische Wert des Gebietes ist unumstritten. Dort leben extrem seltene Tierarten wie Flussregenpfeifer und Gänsesäger oder die Koppe, eine äußerst empfindliche Fischart. Bedeutend sind auch die Vorkommen der Deutschen Tamariske, die als Pionierpflanze die Schotterbänke des Wildflusses besiedelt. Im Jahr 2000 wurde der obere Lech zum Naturschutzgebiet sowie zum Bestandteil des nach EU-Recht geschützten Natura 2000-Netzwerkes erklärt. In Fachkreisen gilt das Gebiet längst als Nationalpark-würdig.
Das Tal sei ein "einzigartiges Naturjuwel", dessen Schutz im nationalen Interesse liege, argumentieren auch die Experten, die von der Tiroler Landesregierung im Rahmen des Genehmigungsverfahrens hinzugezogen wurden. Schon die Wasserentnahme im Winter überschreite "jeglichen Toleranzrahmen". Dieses Problem werde durch die geplante zusätzliche Entnahme verschärft. Damit stehe das Vorhaben "in eindeutigem Widerspruch" zu den von der EU definierten Schutz- und Erhaltungszielen.
Die Tiroler Regierung setzte sich jedoch über die Bedenken der Experten hinweg und erteilte der Bahn die Bewilligung. Aus energiewirtschaftlicher Sicht sei ein "extrem hohes Interesse" an dem Beileitungsprojekt gegeben, heißt es in dem Bescheid. Das Vorhaben entspreche "in geradezu idealer Weise einer umweltschonenden, nachhaltigen und emissionsfreien Energieerzeugung". Wenn weiter alles in ihrem Sinne läuft, will die Bahn die Überleitungsbauwerke schon 2013 in Betrieb nehmen.
Fast 20 Natur- und Umweltorganisationen und Initiativen aus Bayern und Tirol halten die Genehmigung für rechtswidrig und haben bei der EU-Kommission Beschwerde eingelegt. Dass die Behörden das Projekt einfach durchgewunken hätten, wertet WWF-Expertin Schreyer als Präzedenzfall. Auch der Deutsche Alpenverein (DAV) unterstützt die Beschwerde. Die bayerischen Grünen halten das Argument, die Beileitung diene dem Klimaschutz, für vorgeschoben. Die ÖBB habe sich längst von ihrem Kerngeschäft, der Beförderung von Menschen und Gütern, weg zu einem internationalen Stromhändler entwickelt und wolle nur Kasse machen.
Auf deutscher Seite haben sich dem Protest am Lech gelegene Gemeinden und Landkreise angeschlossen. In einer Petition an den österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer schreibt der Augsburger Umweltreferent Rainer Schaal, das Bauvorhaben konterkariere auch Bemühungen zur Renaturierung des bayerischen Lechs.
(Georg Etscheit/ddp)
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