Anti-AKW-Geschichte: Die "Republik Freies Wendland"

Als das "Untergrundamt Gorleben-Soll-leben" am 3. Mai 1980 die Bohrstelle 1004 über dem Gorlebener Salzstocks für besetzt erklärt und im ganzen Land um Unterstützung wirbt, macht sich auch der Hamburger Fotograf Günter Zint in seinem klapprigen Wohnmobil auf den Weg in den Kreis Lüchow-Dannenberg. Der damals 38-Jährige Zint will eigentlich nur ein paar Bilder machen und dann wieder nach Hause fahren. Doch Zint bleibt. Er verknipst in dem Hüttendorf viele hundert Filme und wird so zum Chronisten der "Republik Freies Wendland".
 
Tausende Umweltschützer wollten damals mit der Besetzung die Tiefbohrungen stoppen, mit denen Bund und Stromwirtschaft den unterirdischen Salzstock auf seine Eignung als Atommülllager erkunden. Auf sandigem Boden errichten sie ein großes Rundhaus für Versammlungen und Dutzende Wohnhütten aus Baumstämmen, Stroh und Glas.
 
"Ich habe mit großer Begeisterung alle verschiedenen Bauarten der Häuser dokumentiert", erinnert sich Zint. "Es gab Energiesparhäuser mit Heizung aus Flaschen, die sich in der Sonne erwärmten und nachts die Wärme nach innen abgaben. Es gab eine Großküche, eine Krankenstation, eine Kirche, eine Groß-Toilettenanlage und eine Badeanstalt mit holzbeheizter Badewanne." Am Dorfeingang entstand ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo "Wendenpässe" ausgestellt werden und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne flattert.
 
 
Die Behörden sind empört und verurteilen den "Rechtsbruch".
Niedersachsens Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) sagt damals bei einem Besuch im Wendland, dass die "scheinbare Idylle und das rechtschaffene, ärmliche und gewaltlose Bild nur Kulisse" seien. Eine Holzhütte mit der Bezeichnung "Fritz-Teufel-Haus" hält für die Anschuldigung der Lüneburger Bezirksregierung her, die "Republik Freies Wendland" sei ein Refugium für Terroristen. Teufel war ein politischer Revoluzzer aus der damaligen West-Berliner Studentenszene.
 
Der Häuserbau und die frische Luft machen hungrig. "Oft hatten wir abends keine Ahnung, was es am Morgen zum Frühstück geben würde", erzählt Lilo Wollny. Die damals 54-Jährige organisierte die Verpflegung für Hunderte Atomkraftgegner auf dem besetzten Platz. In den Anfangstagen bringen Bauern Kartoffeln und Gemüse, Bäcker liefern kostenlos das Brot vom Vortag. Frauen aus den Nachbardörfern backen Kuchen, die in der Republik Freies Wendland für eine Spende abgegeben werden. "So kamen wir an Geld, um selber was einzukaufen", sagt Wollny.
 
An den Wochenenden reisen Tausende Neugierige an, das Dorf wird zur touristischen Attraktion von Kaffeefahrten und Familienausflügen.
Manche Gäste wollen nur mal gucken, andere bringen Werkzeug mit und helfen beim Häuserbau. "Eines abends tauchen unverhofft ein paar Damen im Abendkleid und Herren im Smoking auf und überreichen etwas verlegen Platten mit Häppchen, die von einer Geschäftseinweihung übriggeblieben sind", schreibt eine Zeitung. Auch Gerhard Schröder, damals Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, schaut im Hüttendorf vorbei.
 
Abends spielen Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive und Liedermacher wie Wolf Biermann und Walter Moßmann. Göttinger Theologiestudenten bauen im Dorf eine Holzkirche. Rund 100 Besucher kommen zum ersten Gottesdienst. Die hannoversche Landeskirche hat kurz zuvor ein Predigtverbot für einen Pfarrer aus dem nahen Gartow erlassen.
 
Am 4. Juni wird die Republik Freies Wendland von der Polizei geräumt. Rund 10.000 Beamte umstellen das Hüttendorf, Hubschrauber donnern im Tiefflug über die Baumwipfel. "Das sah aus wie Bürgerkrieg und fühlte sich auch so an", sagt die Grünen-Politikerin Rebecca Harms. Die Küchencrew hat ihren letzten Einsatz. "Wir haben noch Tee und Suppe gekocht, als die Räumung schon begonnen hatte", berichtet Lilo Wollny.
 
5.000 Atomkraftgegner sitzen an jenem Tag singend auf dem Dorfplatz. Beamte zerren die Demonstranten aus der Menge, vereinzelt kommen Schlagstöcke zum Einsatz. Raupenfahrzeuge walzen die Hütten nieder. Günter Zint beobachtet den Einsatz aus dem Fenster eines Hauses. Sekunden nachdem er das Gebäude verlässt, rammt ein Bulldozer den Bau. Die Hütte fällt in sich zusammen.
 
"Reine Glückssache", sagt Zint, "dass ich diese Situation überlebt habe." Trotz dieses Angstmoments überwiegen bei dem Fotografen die guten Erinnerungen an die Republik Freies Wendland. "Es waren viele aufregende Wochen mit einer tollen Solidarität unter den Bewohnern", sagt er. "Ich bin froh, dabei gewesen zu sein."
 
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