Bei AKW-GAU in Deutschland: Helden dringend gesucht
Was passiert, wenn in Deutschland nach einem Störfall die Strahlendosis in einem Reaktor lebensgefährlich hoch ist? Wer geht dann dort hinein, um vielleicht noch Schlimmeres zu verhindern - etwa eine Explosion, durch die ganze Landstriche oder Großstädte verstrahlt würden? Können die Kraftwerksbetreiber ihren Mitarbeitern das vorschreiben? Was ist mit Polizei, Feuerwehr, THW und Bundeswehr? Wer diesen Fragen nachgeht, lernt zunächst, dass dafür irgendwie keiner zuständig ist.
Es gibt Vorschriften, Richtlinien, Verordnungen und darin Grenzwerte, die maximale Strahlenbelastungen von 250 Millisievert bei "lebensrettenden Maßnahmen" oder zur "Verhinderung einer wesentlichen Schadensausweitung" vorschreiben. Im normalen Leben liegt der Grenzwert bei einem Millisievert. Schon ab 250 Millisievert wird die Strahlendosis akut gesundheitsgefährdend.
Wer aber geht bei einer Reaktorkatastrophe in ein AKW, wenn dort Grenzwerte weit überschritten werden und der Bereich, in dem gearbeitet werden muss, extrem, gar tödlich, verstrahlt ist? Haut, Blut, Schleimhäute, Knochenmark oder auch das gesamte Nervensystem und Gehirn können so massiv geschädigt werden, dass die Betroffenen an der Strahlenkrankheit sterben. Das beginnt bereits ab einer Strahlenbelastung von 3.000 Millisievert, sagt ein Sprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz der Nachrichtenagentur dapd. Wer eine Strahlendosis höher als 8.000 Millisievert abbekommt, ist dem Tod geweiht.
In Tschernobyl waren Dutzende Arbeiter, die direkt am zerstörten Meiler arbeiten mussten, 6.000 Millisievert ausgesetzt. In Japan standen bereits drei Arbeiter, zu ihrem Glück nur eine Dreiviertelstunde und nur bis zu den Knöcheln, in radioaktivem Wasser, das sie laut japanischer Atomaufsichtsbehörde NISA mit 2.000 bis 6.000 Millisievert belastete.
Eine klare Antwort auf die Frage, wer auf welcher Rechtsbasis in einen extrem gefährlich verstrahlten Reaktor geht, erhält man von keiner Institution oder Behörde, die mit Reaktorsicherheit, Strahlen- oder Katastrophenschutz betraut ist. Das hat einen einfachen Grund, erklärt der Katastrophenforscher Willi Streitz von der Universität Kiel der dapd-Nachrichtenagentur. "In einer Demokratie kann man niemandem befehlen, in den Strahlentod zu gehen. So etwas kann nur ein Freiwilliger machen." So steht es auch in der Strahlenschutzverordnung, und dort liegt der Grenzwert für die Strahlenbelastung im Falle von "Personengefährdung und Hilfeleistung" bei den bereits aufgeführten 250 Millisievert. Zudem dürfen Rettungsmaßnahmen nur von Freiwilligen über 18 Jahren, die über die Gefahren aufgeklärt wurden, durchgeführt werden.
"Es leisten zwar viele Menschen in Deutschland einen Amtseid", so Streitz, "aber zwingen kann man niemanden." Der Professor für öffentliches Recht an der Verwaltungshochschule in Speyer, Joachim Wieland, erläutert die Grenzen der Dienstpflicht. "Das ist ein so weit gehender Eingriff in Leben und Gesundheit, das könnte nur der Gesetzgeber regeln. Und hier gibt es bisher noch keine Grundlage, weil man an solche Fälle noch nicht gedacht hat." Der Gesetzgeber könne durchaus festlegen, dass es bei bestimmten Berufen eine Pflicht gibt, ein Risiko für das eigene Leben einzugehen, erklärt der Staatsrechtler. Ein Risiko einzugehen sei eine berechtigte Anforderung. Doch was zum sicheren Tod führe, das müsse auch kein Feuerwehrmann oder Polizist machen, erklärt Wieland. "Das ist mit dem Grundsatz der Menschenwürde in unserer Verfassung nicht vereinbar, und das Bundesverfassungsgericht hat hierzu auch keine Entscheidungen gefällt."
Der Gesetzgeber könnte jedoch versuchen, die Grenzwerte der Strahlenbelastung für bestimmte Ausnahmesituationen zu erhöhen, fährt der Jurist fort. "Sobald jedoch die Strahlenbelastung so hoch wäre, wie derzeit in Japan, wo eine Gesundheitsgefahr ganz manifest ist, wäre auch in Deutschland kein Gesetz durchzusetzen."
Die dapd-Nachrichtenagentur hat auch die Kernkraftwerksbetreiber gefragt. Nur RWE und Vattenfall antworteten. Der RWE-Sprecher betont, dass es für Störfälle Krisenstäbe und Krisenpläne gebe, die auf verschiedene Situationen abgestimmt seien und dass man den Kerntechnischen Hilfsdienst rufen könne. Der könne mit Manipulatorfahrzeugen, also kleinen Robotern, ferngesteuert tätig werden. Die Nachfrage, was man denn mache, wenn das Problem in einem tödlich verstrahlten Reaktor nicht mit einem Roboter gelöst werden könne, blieb unbeantwortet. Der Sprecher verwies jedoch darauf, dass die deutschen Kernkraftwerke zu den sichersten der Welt zählten und es zu einer Katastrophe wie in Japan nicht kommen könne, weil es in Deutschland keine Tsunamis gebe.
Der Kieler Universitäts-Experte für die Analyse von Katastrophen, Willi Streitz, ist da weniger optimistisch. "Das Merkmal einer Katastrophe ist, dass alle Verlässlichkeit verloren geht. Das bedeutet, Katastrophenpläne und Sicherheitsszenarien sind oftmals nur zur Beruhigung der Öffentlichkeit geeignet und nicht zu einer tatsächlichen Vorbereitung auf den Ernstfall."
Eine Sprecherin von Vattenfall verweist auch auf die Möglichkeit, Roboter einzusetzen. Aber wenn das nicht gelänge und die Strahlenbelastung zu hoch würde, könnten nur noch Freiwillige in den Reaktor gehen. "Auch in Deutschland gibt es Menschen, die sich für die Gesellschaft einsetzen und die in solch einem Falle bereit wären, eine erforderliche Aufgabe zu übernehmen", so die Sprecherin. Mit anderen Worten: Auch Deutschland bräuchte Helden.
Streitz jedoch sagt, es sei ein offene Frage, "wie weit in unserer Gesellschaft die Bereitschaft reicht, in den sicheren Strahlentod zu gehen und sich für die Gemeinschaft zu opfern". Das Fazit des Forschers: "Hier regiert das Prinzip Hoffnung."
(Steffen Mayer / dapd)