Experte: "Der Schock durch Fukushima ist größer als nach Tschernobyl"
Der Physiker Lothar Hahn ist seit Jahrzehnten Experte für Atomfragen. Der damalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin berief ihn 1999 in die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK). Mittlerweile ist er im Ruhestand, doch seine Expertise ist nach wie vor gefragt. Die Nachrichtenagentur dapd traf ihn auf dem Kongress "25 Jahre Tschernobyl. Zeitbombe Atomenergie - Atomausstieg jetzt!" der internationalen Ärzte-Organisation IPPNW.
dapd: Wie schätzen Sie die Dimension des Atomunfalls in Fukushima, verglichen mit Tschernobyl ein?
Hahn: Abschließend kann man das jetzt noch nicht beurteilen.
Fukushima ist natürlich noch nicht vorbei. Es kann noch schlimmer werden, von Stunde zu Stunde. Die Kühlung der Reaktoren ist noch nicht wieder funktionsfähig, es kann noch zu massiven Freisetzungen von Radioaktivität kommen.
dapd: Wie unterscheidet sich der Ablauf des Unglücks in Fukushima von dem in Tschernobyl?
Hahn: In Tschernobyl ging es relativ schnell. Abrupt wurden der Reaktorkern und das Gebäude zerstört. Fast das ganze leichtflüchtige sogenannte "Inventar", also das radioaktive Material, ist in kurzer Zeit entwichen. Im Reaktorkern war Grafit enthalten. Das ist leicht entzündlich und brannte. Dadurch wiederum wurde das Material in große Höhen gebracht, von wo es sich über ganz Europa ausbreiten konnte. Selbst die schweren radioaktiven Stoffe sind durch die höheren Temperaturen freigesetzt worden.
In Fukushima ist es meiner Einschätzung nach immer wieder zu Schäden gekommen, auch zu teilweisen Kernschmelzen. Aber eine vollständige Kernschmelze mit den entsprechend hohen Temperaturen hat es bislang dort nicht gegeben. Aus meiner jetzigen Kenntnis würde ich sagen, dass die Freisetzungen - zumindest noch - geringer sind als in Tschernobyl.
dapd: Der verbliebene Reaktorrest in Tschernobyl wurde mit dem sogenannten Sarkophag eingeschlossen. Wie kann es - im bestmöglichen Fall - in Fukushima weitergehen?
Hahn: Die Schäden in der Anlage sind beträchtlich. Die Reaktorgebäude 1, 3 und 4 sind zerstört. Die Sicherheitsbehälter scheinen zwar überwiegend intakt zu sein, außer in Block 2. Alles ist jedoch mehr oder weniger stark verstrahlt. Man wird auch hier die Anlage einschließen müssen. Der Betreiber ist schon dabei, darüber nachzudenken, über Folien zum Beispiel. Der Unterschied ist nur: Anders als in Tschernobyl muss man hier für die weitere Kühlung an die Gerätschaften herankommen, an die Pumpen zum Beispiel. Man muss sie warten und bedienen können. Denn wenn die Kühlung aussetzt, gehen die Probleme von vorne los. Aber insgesamt sind wir noch längst nicht so weit. Noch müssen wir ja Wasser von außen auf die Anlagen schütten!
dapd: Schon nach dem Unglück in Tschernobyl hat sich - zumindest zeitweise - die Stimmung gegen die Kernenergie gewendet. Sind die Proteste, die wir jetzt sehen, damit vergleichbar?
Hahn: Da sind wir jetzt auf einer anderen Stufe. Obwohl Japan viel weiter entfernt ist als die Ukraine, habe ich den Eindruck, dass das Unglück in Fukushima die Menschen viel mehr entsetzt.
dapd: Warum?
Hahn: Tschernobyl war für viele ein Warnschuss, der die Menschen nachdenklich gemacht hat. Danach war in Deutschland die Mehrheit für die Atomkraft nicht mehr gegeben. Als der Atomausstieg beschlossen wurde, hatten wir eine Art Befriedung in der Gesellschaft. Eine Akzeptanz, dass wir die letzten paar Jahre Atomenergie eben noch hinnehmen. Aber die Laufzeitverlängerung, die im vergangenen Herbst beschlossen wurde, hat die Menschen sehr empört. Und zwar nicht nur die klassische Anti-AKW-Bewegung, sondern auch viele normale Bürger, quer durch die politischen Parteien. Die Laufzeitverlängerung ist ein entscheidender Faktor dafür, dass der Widerstand gegen Atomkraft jetzt nach Fukushima so groß ist.
dapd: Nach Tschernobyl ging es trotzdem weiter mit der Atomkraft, auch in Deutschland.
Hahn: Auch damals hat es Gespräche zwischen Politik und Kraftwerksbetreibern über den Ausstieg aus der Atomkraft gegeben.
Aber sie sind gescheitert. Damals war allerdings auch der Widerstand nicht so groß, in der Bevölkerung wie in der Politik. Seit Fukushima haben wir da eine neue Qualität. Ich denke nicht, dass die Kernenergiebetreiber sich davon erholen können. In Deutschland zumindest.
(Katrin Aue / dapd)