Wie der Super-GAU von Tschernobyl die deutsche Innenpolitik prägte
Vielleicht ist es die deutsche Empfänglichkeit für Ängste, vielleicht die Sensibilität für Umweltthemen: In kaum einem anderen westeuropäischen Land hat der Schock des Super-GAU von Tschernobyl die Innenpolitik so nachhaltig geprägt wie in der Bundesrepublik. In dem Vierteljahrhundert seither machte die deutsche Politik die weite Reise einmal Atomausstieg und zurück - bis die Katastrophe in Japan nun erneut ein ähnliches politisches Beben auslöste.
Tatsächlich zeitigt die Explosion im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986 schon binnen sechs Wochen die ersten Konsequenzen im 1.800 Kilometer entfernten Bonn. Nach einem beispiellosen Durcheinander - von Becquerel, Curie und Millisievert, von Warnungen und Entwarnungen der einzelnen Bundesländer, von Schreckensmeldungen und Verharmlosung, von als Sondermüll entsorgter Molke und verseuchten Pilzen - überrascht Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) sein Kabinett mit einer Sofortmaßnahme.
Am 6. Juni 1986 gründet Kohl das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) - ein eigenes und vollwertiges Ressort. Bis dahin gehören Umweltbewegung, Waldsterben und saurer Regen zu der unübersehbaren Vielfalt von Zuständigkeiten des Bundesinnenministeriums. Erster Ressortchef wird Walter Wallmann (CDU), der allerdings schon 1987 als hessischer Ministerpräsident nach Wiesbaden wechselt und seinem Parteikollegen Klaus Töpfer das Feld überlässt. Wenige Monate später zeigt sich noch eine Folge des politischen Erdbebens. Die Grünen gewinnen bei der Bundestagswahl im Herbst 1987 deutlich hinzu, von 5,6 auf 8,3 Prozent der Stimmen. Umfragen zeigen seither regelmäßig die Skepsis der Deutschen gegen die Atomkraft.
Der "unumkehrbare" Ausstieg
Zunächst führt die deutsche Atomwirtschaft noch Rückzugsgefechte um ihre Prestigeprojekte - vor allem um die letztlich nie genutzte Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, um Atomtransporte und mögliche Endlager. Einige Jahre später geht es ums Ganze.
Tatsächlich gehen nur zwei deutsche Meiler vom Netz - Stade 2003 und Obrigheim 2005 -, bevor die Atombetreiber Hoffnung auf einen Ausstieg vom Ausstieg schöpfen. Die Union, die 2005 mit der Abkehr vom Atomausstieg Wahlkampf gemacht hat, stellt inzwischen in der Großen Koalition die Kanzlerin.
Verblasstes Trauma
Das Trauma von Tschernobyl ist inzwischen verblasst. So meint Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU), die "Melange aus Kaltem Krieg und atomarer Apokalypse" sei überholt, nun "können wir es uns eben nicht mehr leisten, auf die Kernenergie als Übergangsenergie zu verzichten."
Nur der Koalitionspartner SPD bockt. Erst nach dem Koalitionswechsel 2009 kann die Union die Abkehr vom Atomausstieg mit ihrem neuen Partner FDP durchsetzen. Die schwarz-gelbe Koalition hofft auf niedrigere Strompreise und Klimavorteile der "CO2-freien" Atomtechnik, bis der Ausbau der erneuerbaren Energien greift.
Ende 2010, ein halbes Jahr vor dem 25. Jahrestag des Super-GAU, ist die Verlängerung der Atomlaufzeiten um acht bis 14 Jahre beschlossene Sache. Doch nur wenige Monate später ist wieder alles anders. Als im März 2011 die Bilder der explodierenden Kraftwerksgebäude im japanischen Fukushima über die deutschen Bildschirme flimmern, zeigt sich auch Kanzlerin Angela Merkel in ihrem Vertrauen auf die Technik erschüttert und verkündet die Wende: "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, und wir gehen auch nicht zur Tagesordnung über."
(Verena Schmitt-Roschmann / dapd)